Essen
© Merian, Topographia Westphaliae, Sammlung IStG

Stadtreformation Essen

Stadtherr: Fürstäbtissin von Essen
Reformator: Heinrich Barenbroich
Beginn der Reformation: 1560
Kirchenordnung: 1538 (Übernahme der herzoglich-klevischen humanistischen Kirchenordnung)

Die mit dem Reichsstift verbundene Stadt Essen hatte sich in allen konfessionellen Fragen mit der dortigen Äbtissin auseinanderzusetzen, denn diese bestätigte den Rat und besaß das Besetzungsrecht der Pfarrstellen beider Kirchen. Zudem ist der Einfluss der Herzöge von Jülich-Kleve-Berg und ihrer humanistischen Reform als reformatorischer „Mittelweg“ (Via media) im Essener Reformationsgeschehen nicht zu übersehen. Zwar gehörte Essen nicht zum Territorienkomplex des Herzogs, doch war die Grafschaft Mark unmittelbar benachbart. Seit 1495 übte der Herzog ferner die Schirmherrschaft, eine Schutzaufgabe, im Auftrag des Reiches über Essen aus und konnte dadurch auch die Eliten der Stadt (Rat und Klerus) im Sinne seines humanistischen Reformkonzepts beeinflussen. Dieser Einflussnahme ist es wohl auch geschuldet, dass sich der Essener Reformationsprozess bis zur Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert hinzog.

  • Einsickern lutherischer Ideen

    In den frühen 1530er Jahren unterblieb eine Essener Stadtreformation, weil der Einfluss Jülich-Kleve-Bergs dazu führte, dass die Stadt 1538 die herzogliche Kirchenordnung von 1532 übernahm. In diesem Jahr wurde der mit der Gertrudenkirche vom Stift betraute Pfarrer auf die Kirchenordnung des Herzogs verpflichtet. Vorboten einer lutherischen Reformation hatte es aber dennoch ebenfalls Ende der 1530er Jahre gegeben. Damals stellte der Essener Rat eigenmächtig einen vermutlich lutherisch predigenden Prädikanten für die Gertrudenkirche als Nachfolger des Pfarrers Johann Steinhuis an. Doch die Äbtissin berief daraufhin einen katholischen Geistlichen und entließ den Vorgänger. Auch die Essener Seelsorger Esken (1543–1547) und Weßmann (1547–1558) machten bereits Zugeständnisse, denn sie zelebrierten die Messe in lateinischem Ritus, aber mit deutschem Gesang. Für 1540 ist zudem schon überliefert, dass das Abendmahl auf Verlangen unter beiderlei Gestalt gespendet wurde. Hier scheint es also Aushandlungsprozesse gegeben zu haben. Was in der Stadt Essen fehlte, waren reformationswillige Prediger.

  • Die humanistische Reform

    Ebenfalls auf Initiative des Stadtrates wurde 1546/47 die Stiftsschule neu organisiert. Für die 1540er und 1550er Jahre lässt sich nachweisen, dass an der Essener Schule humanistisch orientierte Lehrer tätig waren, die dezidiert humanistische Positionen vertraten. 1551 überlies die Essener Äbtissin Katharina von Tecklenburg – eine Schwester des reformationsfreudigen Grafen Konrad von Tecklenburg – dem Rat die Leitung der Schule für zehn Jahre. Der neue Rektor, Peter Scharpenberg, der zuvor in Dortmund gelehrt hatte, musste sich verpflichten, keine „secten“ durch Buchlektüre zu fördern und ausschließlich katholische Bücher zu nutzen. Auch bezüglich der Umwidmung geistlicher Pfründen zugunsten des Schulausbaus orientierte man sich am Dortmunder Beispiel. Erneuert wurde diese humanistische Orientierung noch 1563, als die Schule wieder in Stiftsbesitz überging. Die Lehrer sollten weiterhin nur katholische Bücher nutzen, mit ihren Schülern dem Kirchendienst bei der Vesper, Messe und Prozession beiwohnen und auf konfessionelle Polemik verzichten. Diese Bedingungen scheint damals aber nur noch die Äbtissin gestellt zu haben, denn in der Stadt Essen fand um 1560 ein Umdenken statt.

  • Der Essener Reformationsprozess

    Zu Weihnachten 1560 kam es zu einer demonstrativen Loslösung von der alten Kirche: Beim Lesen der Messe wurde der neue Pfarrer der Gertrudenkirche Heinrich Saldenberg plötzlich tätlich gestört. Eine Bürgerschar, darunter viele Handwerker, stürmte in die Kirche, betrat den Chorbereich und sang gegen das lateinische Te Deum in deutscher Sprache „Großer Gott wir loben Dich“ so laut und ausdauernd an, dass Saldenberg den lateinischen Gesang abbrach und in die Sakristei flüchtete. Zusammen mit dem 24er-Ausschuss, dem regulären Vertretungsorgan der Bürgerschaft, beschloss der Rat am 19. Januar 1561, in der Gertrudenkirche deutsche Psalmen zuzulassen. Dagegen protestierte die Äbtissin, worauf der Rat eine Versammlung aller Bürger einberief. Die Bürger forderten die Beibehaltung der deutschsprachigen Lieder, riefen den Rat um Hilfe an und leisteten den Schwur, sich gegenseitig beizustehen, sollte sich jemand diesem Anliegen widersetzen. Auch in Essen konstituierte sich die Bürgerschaft als Schwureinung neu. Der Rat versuchte Saldenberg zu bewegen, als Hilfsgeistlichen einen Prediger namens Heinrich Barenbroich aus der Pfalz-Grafschaft Zweibrücken einzustellen. Mit ihm hatte der Rat schon vorher heimlich Kontakt aufgenommen. Darüber aber kam es mit dem Stift zu Streitigkeiten.
    Um Ostern 1562 forderte dann die Gemeinde vom Pfarrer Saldenberg die ausschließliche Spendung der Kommunion unter beiderlei Gestalt. Als dieser sich weigerte, kam es erneut zu einem Tumult. Während die Äbtissin protestierte, nutzte der Rat die vermittelnde Position des Klever Herzogs aus und bat ihn um Unterstützung für die Kommunion unter beiderlei Gestalt. Der Herzog verhielt sich abwartend.

  • Konflikt zwischen der Stadt Essen und der Äbtissin

    Im März 1563 lehnte die Äbtissin das Ansinnen nach einer Kommunion unter beiderlei Gestalt erneut ab, nicht zuletzt, weil sie um ihre Rechte in der Stadt und im Reich fürchtete. Sie bat den Kaiser um Unterstützung. Gleichzeitig kam Barenbroich nach Essen, wo er am 28. April 1563 seine erste Predigt in der Hospitalkirche hielt und am 2. Mai die Kommunion im Sinne Luthers spendete. Offensichtlich scheute der Rat noch die Machtprobe mit der Äbtissin. Dann aber berief der Rat Barenbroich als Prediger an die Gertrudenkirche. Als jedoch die vom Kaiser eingesetzte Kommission in Essen eintraf, musste der Rat Saldenberg wieder sein Amt zugestehen. Der neue Prädikant zog fort. Es war nicht das letzte Mal, dass er die Stadt nach einer Berufung wieder verlassen musste. Der Rat argumentierte in den folgenden Verhandlungen, dass ihm das Ius reformandi gemäß des Augsburger Religionsfriedens zukomme, da man die Stellung einer Reichsstadt habe. Das traf aber juristisch nicht zu, wenngleich dieser Status auch vom Essener Rat beansprucht wurde, um sich von der Äbtissin zu lösen. Der Rat behauptete, die Fürstäbtissin habe keine Hoheitsrechte. Die kaiserliche Kommission forderte dagegen die Ausweisung des Predigers, doch kehrte dieser erneut zurück.
    Im Herbst 1563 folgten weitere Verhandlungen, in denen die Stadt sich weiterhin als Reichsstadt darstellte und den Herzog von Kleve zu gewinnen suchte, indem man die Kommunion unter beiderlei Gestalt in den Vordergrund stellte, die auch in den herzoglichen Landen akzeptiert war. Die Äbtissin hingegen pochte auf ihre überkommenen Rechte an den Pfarrkirchen. Es kam zu einem Vermittlungsversuch der klevischen Räte, die im humanistischen Sinne vorschlugen, das Abendmahl wie im Herzogtum auf Wunsch unter beiderlei Gestalt zu reichen und hiermit die katholischen Geistlichen zu beauftragen. Dem aber widersetzten sich beide Parteien. In der Folge kam es am 26. Oktober 1563 zu einer Bürgerversammlung, auf der der Bürgermeister die Bürger aufforderte, ihren Glauben zu bekennen. Darauf entgegneten die Bürger, sie wollten an der Augsburgischen Konfession festhalten. Als Konsequenz setzte der Rat einen lutherischen Prädikanten neben Saldenberg ein, der im November 1563 die Deutsche Messe einführte. Der Rat bat dann den Pfalzgrafen Wolfgang von Zweibrücken offiziell, Barenbroich zu entsenden. Gleichzeitig wurde der Herzog um Schutz gebeten, den dieser aber ablehnte. Vielmehr forderte er die Stadt auf, alle Neuerungen einzustellen. Wohl aus Angst, der Essener Stadtrat könne dem Befehl folgen, gab die Bürgerschaft nun die Richtung vor: Saldenberg wurde von den Bürgern gezwungen, die Gertrudenkirche zu verlassen; der Rat setzte Barenbroich erneut ein und betonte, die Kirche sei eine „gemeine Bürgerkirche“. Diese Maßnahme in Religionsdingen sei statthaft, weil die Stadt die Reichsstandschaft besitze. Die Essener erkannten das Argument der klevischen Räte, die Stadt sei nur zusammen mit dem Stift ein Reichsstand, aber eben keine Reichsstadt, nicht an. Auch der herzogliche Kompromissvorschlag, die Kommunion unter beiderlei Gestalt im Anschluss an die katholische Messe zu reichen und die Taufe in deutscher Sprache zu spenden, wurde von beiden Seiten nicht akzeptiert. Man vertrat nun die Scheidung der Konfessionen. Allerdings legte der Rat im Dezember 1563 fest, dass man den Konvent der Stiftsdamen am Reichsstift und die dortigen Kanoniker sowie andere Geistliche nicht beschimpfen dürfte und dass die katholischen Zeremonien in den anderen Kirchen der Stadt ungestört bleiben sollten.

  • Durchsetzung des Rates

    Nach dieser erneut fehlgeschlagenen Vermittlung setzte der Rat nun in beiden Pfarreien lutherische Prädikanten, darunter Barenbroich, ein. Pfarrer Saldenberg durfte die Kirche nicht mehr betreten; die Äbtissin konnte ihre Rechte nicht durchsetzen. Barenbroich betonte zu Anfang 1564, er werde die Confessio Augustana lehren und den „papistischen Irrtum“ beseitigen. Wohl in dieser Zeit – vielleicht auch schon 1563 – erfolgte die Anlehnung Barenbroichs an die Pfalz-Zweibrückener Kirchenordnung von 1557.
    Nochmals wies der Herzog von Kleve den Essener Rat an, Barenbroich aus dem Amt zu entfernen. Er versprach im Gegenzug, einen neuen Pfarrer zu entsenden. Dies geschah auch: Der neue Pfarrer namens Caspar Isselburg wurde in die Stadt geschickt, doch auch der entlassene Pfarrer Barenbroich blieb zunächst noch in Essen. Ursächlich hierfür war die „Belagerung“ des Rathauses durch die lutherisch gesonnenen Bürger, die gegen die Ausweisung protestierten. Ein weiterer Vergleichstag mit einer kaiserlichen Kommission, besetzt mit klevischen und kurkölnischen Gesandten, scheiterte am 23. März 1564. Erneut wurde Barenbroich ausgewiesen. Doch an der Durchsetzung des Luthertums änderte dies nichts, denn der vom Herzog gesandte Prädikant Isselburg bekannte sich ebenfalls zur lutherischen Lehre, und auch die anderen Prädikanten predigten im lutherischen Sinne. Hinsichtlich dieser Situation gab die Äbtissin ihren Widerstand auf.
    Ab 1571 residierte Barenbroich in der Stadt als erster Pfarrer der Gertrudenkirche. In diesem Jahr wurden zudem auf seine Veranlassung die „Elf Predigerartikel“ aufgestellt, die vom Rat und den Stadtpfarrern gemeinsam beschlossen wurden und von jedem neuen Pfarrer und Bürgermeister zu unterschreiben waren. Grundlage der Artikel waren u.a. das Augsburger Bekenntnis und der Katechismus Luthers.
    Die Stadt blieb dann der lutherischen Reformation verpflichtet, was sich bei der Visitation des päpstlichen Nuntius 1611 zeigte. Als die Reformierten ab ca. 1600 langsam Fuß in der Stadt fassen konnten, verbot der Rat 1611 den reformierten Gottesdienst, um „Unruhe unter der gemeinen Bürgerschaft zu verhüten.“

Literatur
Werner Freitag, Die Reformation in Westfalen. Regionale Vielfalt, Bekenntniskonflikt und Koexistenz, Münster 2016, S. 211 – 219.

URL zur Zitation: www.uni-muenster.de/Staedtegeschichte/reformation-in-westfalen/Reformation_in_Westfalen/staedtederreformation/essen/index.html